Mittelreich: Roman (suhrkamp taschenbuch)

Buchseite und Rezensionen zu 'Mittelreich: Roman (suhrkamp taschenbuch)' von Josef Bierbichler
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mittelreich: Roman (suhrkamp taschenbuch)"

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:525
EAN:

Rezensionen zu "Mittelreich: Roman (suhrkamp taschenbuch)"

  1. 5
    29. Mär 2021 

    Bayrischer Gesellschaftsroman

    „Mittelreich“ ist ein Roman, in dem uns der Autor Josef Bierbichler, den wir eigentlich besser als Schauspieler kennen, in die Welt seiner Heimat, den Starnberger See, eintauchen lässt. Er erzählt die Geschichte der Seewirtsfamilie und ihrer Bediensteten und Freunde von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die 70er/80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.
    Zum Beginn des Jahrhunderts ist die Welt „noch in Ordnung“. Die bayerische Idylle und Abgeschlossenheit dieser bäurischen Gesellschaft ist noch weitgehend unangetastet. Doch der Seewirt steht in seiner Position an einer Schnittstelle zur äußeren Welt und eröffnet über die Bewirtung von Sommergästen aus dem so fern erscheinenden städtischen München die Tür für Einflüsse, die den ländlichen Charakter langsam aber sicher nachhaltig verändern werden. Der Erste Weltkrieg bringt dann die Familienordnung durcheinander. Der Erstgeborene, als Nachfolger in der Seewirtschaft qua Geburt schon festgeschrieben, kehrt nicht aus dem Krieg zurück. Und so muss der Zweitgeborene, Pankraz, gerade zu einem Zeitpunkt in seine Fußstapfen treten, als er beginnt, sich für eine Sängerausbildung zu interessieren und zu qualifizieren. Natürlich ergibt er sich in sein Schicksal und wird über Jahrzehnte hinweg der Seewirt in Seedorf, auch nachdem er aus dem Zweiten Weltkrieg nur schwer verwundet zurückkehrt. Das Dorf und seine Bewohner, für die die Erhaltung ihrer Welt und Normen und ein Abwehren all dessen, was auch nur annähernd nach Veränderung ausschaut, werden danach in ihren Grundwerten immer mal wieder in Frage gestellt durch die Aufnahme von einer Reihe von Flüchtlingen aus den verlorenen Landesteilen. Da ist zum Beispiel das Fräulein Zittau, das als adlige Tochter in einem pommerschen Herrenhaus aufgewachsen, nun als Kinderfräulein das Seewirtshaus belebt, und das mit einem ganz besonderen Geheimnis im Gepäck anreist, das sie bis zu ihrem Ende zu bewahren weiß. Da ist der Sudetendeutsche Knecht, der die Dorfgemeinschaft mit seinen individuellen Erfahrungen aus dem KZ konfrontiert, um ihnen die Ernsthaftigkeit dieser geschichtlichen Tatsache vor Augen zu führen, während sie über die Nazizeit und deren Verfolgungen nach allem, was sie erlebt haben, immer noch nur lächeln und zum Beispiel im Hitlerkostüm zum Faschingsball erscheinen können. Vor eine neue Herausforderung stellen die Dorfgemeinschaft dann die Gastarbeiter oder auch die Städter des Wirtschaftswunders, die ihre Villen an das Ufer des Sees setzten möchten, und dadurch das behäbig Bayerische dieser abgeschlossenen Gesellschaft immer wieder herauszufordern wissen.
    Das Ganze erzählt Bierbichler in einer ganz besonderen Sprache, die immer wieder den Lokalkolorit einfließen lässt und sich irgendwie sehr besonders liest. Diese Sprache wirkt manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, sehr fremd und oftmals umständlich, verleiht dem Buch aber seine ganz besondere Stimmung und Stimmigkeit, wenn man sich eingelesen hat. Und Bierbichler erzählt auch in einer ganz besonderen Geschwindigkeit, die das Behäbige und Verharrende des dörflichen Lebens verbindet mit den langsam aber stetig tröpfelnden Einflüssen von außen, und ein Panorama der Seegesellschaft liefert, das einen selten intensiven Eindruck bei mir hinterlassen konnte. Nicht immer habe ich das Buch geliebt. Manchmal war es mir zu bayrisch, zu dörflich, zu naturalistisch. Aber dann wieder war ich fasziniert von der übermittelten Stimmung und dichten Atmosphäre des Buches und auch von einzelnen Episoden und Geschichten, die Bierbichler in seinem Buch ansiedelt.
    Mein Fazit:
    „Mittelreich“ ist ein Buch, das noch lange in mir nachklingt, dessen Personal und Stimmung mich nicht verlassen kann und das ich auch nicht gern loslassen möchte. Deshalb sehe ich über einige Längen und einige Episoden hinweg, die mich etwas gelangweilt oder auch abgestoßen haben. Ein Buch, das mit mir durchaus eine kleine Achterbahnfahrt veranstaltet hat und von dem ich nicht immer verstanden habe, auf welche Art und Weise es mich berührt hat. Doch auch wenn ich darauf noch immer keine feste Antwort gefunden habe, hat weiß ich inzwischen doch ganz genau, DASS es mich berührt hat und dass ich möchte, dass es auch andere noch so zu berühren weiß. Deshalb: Leseempfehlung und 5 dicke Sterne für dieses sehr besondere Buch!